Christine Lemke

Vor der Mondlandung, nach der Mondlandung
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Ein Objekt, Ding oder Gegenstand.

Eine raumgreifende, plastische, gleichzeitig flächige, bunt bemusterte Form.

Sie sieht eigenartig aus und ist nicht genau einzuordnen.

Eine Skulptur oder ein Designobjekt.

Ein geheimnisvoller Gebrauchsgegenstand aus der Zukunft oder der Vergangenheit, den ich noch nicht oder nicht mehr verstehen, geschweige denn benutzen kann.

Das Ding ist mit einem gelben Stoff bespannt und an seinen Rändern rosa orange eingefärbt.

Buchstabenförmige Zeichen sind in einem kräftigen Blau glänzend hineingeprägt.

Auf der Vorderseite ist eine silbern polierte, metallene Fläche angebracht, die mit abstrakten, geometrischen, sich seriell anordnenden Mustern bedruckt ist:

In Rot und Blau und in einem hellschimmernden – das Silber des Metalls wie räumlich doppelnden – Grau.

Der Gegenstand, das Ding oder Objekt wirkt ein wenig übertrieben.

Macht in seiner Gestaltung übertrieben laut auf sich aufmerksam, strahlt grell fordernd und dramatisch in den sich seltsamerweise als neutral vorgestellten Raum der Gegenwart hinein.

Fast wie ein Fashion Victim von gestern.

Supermodern und total gegenwärtig,

aber jetzt

veraltet

und angestaubt

aus der Zeit gefallen.

Viele Zeiten und Bilder überkreuzen sich beim Anblick der Dinggestalt.

Viele Bezüge kommen zusammen.

Das unbekannte Objekt scheint aus einer Vergangenheit zu kommen, die sich selbst als Vergegenwärtigung des Zukünftigen vorstellte.

Dann, bei näherer Betrachtung, stellt sich die gelbe Form als Buch (Fn1) heraus. Ich kann es öffnen und die Seiten in orange rosafarbenem Seitenschnitt eine nach der anderen umblättern. Auf den Seiten sind einfache Wörter und Sätze zu lesen.

Sätze, die sagen, dass, wenn blühende Bäume dem Wege genommen werden, wenn Wälder, Wiesen, wogende Felder dem Ziele „Macht = Konsum“ geopfert werden, dieses Ziel nicht menschlich sein kann.

Auch Bilder sind zu sehen. Bilder von anderen skulpturartigen plastischen, in rot, gelb, silbern, orange oder blau angemalten Formen.

Von Objekten und Flächen, Plätzen und Gebäuden, Außen- und Innenräumen.

Außen- und Innenräume, in denen sich Farbstreifen zu Ornamenten ausbreiten, sich über Wände, Decken und Böden rapportieren, ihre Flächen staffeln und rhythmisieren und die Räume in ihrer Räumlichkeit wie aufzulösen scheinen, um in fortlaufenden Bewegungen aus den rechteckigen Begrenzungen ihrer fotografischen Abbilder hervorzutreten und in den Raum meines Blicks überzuborden.

Die auf den Fotografien abgebildeten Fassaden- und Innenraumgestaltungen dekorieren Stadthallen, Schulen, Bürohäuser, Postämter, Gemeindezentren, Turnhallen und auch Universitäten und Erinnerungsstätten.

Sie stehen an Orten, mittelgroßen Städten mit Namen wie Lahnstein, Bochum, Saarbrücken, Mannheim, Bruchsal, Schwelm, Bielefeld, Bensheim, München, Kaufbeuren, Heidelberg, Essen, Lemgo, Freiburg, Esslingen etc.

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Die Revolution der grünen Elefanten

Beim weiteren Durchblättern des Buches fällt mir ein Foto ins Auge, das anders aussieht – etwas anderes zeigt.

Es ist ein Schnappschuss – beiläufig und unvermittelt aufgenommen.

In eine Menschenmenge hineinfotografiert, fokussiert die Aufnahme die zuversichtlich lachenden Gesichter zweier junger Leute.

Auf ihren Wangen ist je eine runde Form – wie eine Markierung, eine fremdartige Tätowierung, ein Label oder der Stempel eines Clubs – zu sehen.

Die jungen Leute sehen so aus, als seien sie Teil von etwas, von dem sie gerne Teil sind und als sei der Stempel auf ihrer Wange etwas, das sie auszeichnet.

Während ich auf das Bild schaue und darüber nachdenke, was die Markierung bedeuten könnte oder was in ihr zu erkennen ist, setzt das Bild sich vor meinen Augen in Bewegung und als würde ich in den Sucher einer Kamera blicken, bin ich plötzlich Teil eines sich abspulenden Ereignisses.

Der Bildausschnitt vergrößert sich und die Menschenmenge um mich herum ist lautstark zu hören.

Alle sprechen miteinander, unterhalten sich, lachen oder diskutieren. Stehen in Gruppen oder gehen von einer zur anderen Gruppe.

Ich erkenne vor mir auf dem Betonfußboden flächig gemalte Farbbahnen, die an weitere Bahnen angrenzend sich zu einem Zickzackmuster ausbreiten und so den städtischen Raum eines Platzes markieren.

Eine Gruppe junger Menschen neben mir gibt einem Reporter ein Interview und spricht in sein Mikrofon.

Sie erzählen, was gerade passiert und worum es geht, was sie denken worum es geht und welche Meinung sie dazu haben.

Aus der Nähe ist elektronische Musik zu hören, die im Stakkato von den umliegenden mehrstöckigen Verwaltungsgebäuden zurückhallt.

Ein junger Mann tritt von der Seite hinzu und sagt ungefragt, aber ganz überzeugt ins Mikrofon: „Für mich ist das Revolution!“ Die Umstehenden nicken eifrig und freuen sich über den wagemutigen und radikalen Satz.

Ein anderer junger Mann mit langen Haaren steht dicht hinter ihm, er spricht etwas leiser, fast flüsternd sagt er, dass der Platz hier normalerweise so grauer und so kalter Beton sei und dass er das eigentlich nicht gut so finde, aber dass ihm heute alles gut gefalle, besonders die grünen Elefanten.

Ich schaue mich um, sehe aber nirgendwo Grün und auch keine Elefanten. Was ich sehe sind bunte Betonskulpturen, die in losen, den Platz einrahmenden Abständen aufgestellt sind und die Farben des Platzes aufgreifen oder kontrastieren.

Ein Betonbrunnen, aus dem Wasser fließt, ist auch angemalt – das Wasser spiegelt einen irisierenden Effekt zurück und meterlange Stoffbahnen, die an Fahnen erinnern oder wie konstruktivistische Girlanden aussehen, wehen von den Dächern der den Platz umstehenden Betongebäude.

Eine weitere Person spricht jetzt ins Mikrofon. Sie gestikuliert aufgeregt mit ihren Armen und Händen und hebt dabei immer wieder ihren Zeigefinger. Sie sagt, dass sie das ganze Happening (Fn2) hier als die künstliche Beatmung eines Leichnams empfinde und dass der gesamte Platz – und das sehe doch ein Blinder mit Krückstock – eine asoziale Erscheinung sei, eine städtebauliche Fehlplanung, und so behindert sei, wie ein behindertes Kind.

Aber während die Person auf den Reporter einredet, hat dieser seinen Blick schon abgewendet und hält das Mikrofon in Richtung eines seriös wirkenden Mannes im Anzug. Dieser erklärt in langsamen Sätzen, dass es hier um Kommunikation gehe, um die Kommunikation der Bürger und Menschen.

Dann sehe ich, wie die jungen Leute und alle anderen auf dem Platz ihre Köpfe heben und ihre Augen nach oben richten.

Mein Blick folgt ihnen und ich schaue in einen sonnendurchfluteten, blendenden Himmel – bunte Luftballons in Bündeln mit beschriebenen Kärtchen fliegen umher.

Von ferne rollt ein Geräusch heran. Flugzeuge einer Flugstaffel durchkreuzen den Bildausschnitt, überfliegen den Platz. Aus ihren Düsen kommen Kondensstreifen in Rot, Gelb und Blau.

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Die Stadt ist ein Kleid

Von oben sieht der mit farbenfrohen Mustern überzogene Platz so aus, als hätte man ihn aus dem Raum der Stadt ausgeschnitten, angemalt und wieder hineinmontiert.

Als sei er in eine Gleichförmigkeit eingelassen – in eine Anordnung von Häusern und ihren Dächern, aufgereiht an asphaltierten, sich schlängelnden Trassen, dazwischen Plätze und wieder Häuser und ihre Dächer, an asphaltierten Straßen aufgereiht und so weiter …

Die aufgemalten Flächen springen ins Auge. Ihre Zickzackbahnen setzen sich zu Ornamenten zusammen, die sich in wiederholenden Selbstähnlichkeiten immer neu verbinden und weitergehen, wie ein sich fortschreibender Stoff oder eine Textur, die die gesamte Häuserlandschaft überziehen könnte.

Eine im Zickzack übermusterte Stadt.

Eine Stadt, deren Übermalungen Häuser, Straßen, Gehwege und Plätze – ihre Ordnungen von innen und außen, von privat und öffentlich, von Wohnen und Arbeiten, von Gehen und Fahren – in die Ausdehnung farbiger Flächen überführte und sie so, über sich hinausweisend, in eine Bewegung des Schauens und Wahrnehmens – in eine räumlich visuelle Erzählung einschriebe und den Bewohnern der Stadt auf diese Weise die Einkleidung ihrer Lebensformen vorführte.

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Forensischer Müßiggang

Die Flugstaffel umkreist mehrere Male den Platz, versprüht ihre Streifen und ist dann wieder verschwunden. Das Spektakel dauert kaum mehr als eine Viertelstunde und als es beendet ist – es geht schon auf den Abend zu – spielt noch eine Band, Farbprojektionen gleiten über die Fassade des nebenstehenden Verwaltungssitzes einer Bank, dann leert sich langsam der Platz.
Am nächsten Tag wird bis auf die bunten Betonskulpturen alles weggeräumt, geputzt und gereinigt.

Die konstruktivistischen Fahnen werden von den Fassaden genommen.

Das Dekor des Betonbodens verschwindet.

Die auf dem Platz zerstreuten, mittlerweile geplatzten Luftballons mit ihren Kärtchen auf denen Sätze stehen wie „Raumstruktur gleich Sozialstruktur“, werden zusammengekehrt.
Der Platz (Fn3) ist nur mehr der Platz – eine in Beton gegossene, unbestimmte freie Fläche mitten in der Stadt.

Ein dazu montierter öffentlicher Raum.

Die Besitzer der angrenzenden Ladengeschäfte beginnen wie in einer geschäftigen Reminiszenz ihre Schaufenster rot, gelb und blau zu dekorieren, damit die Passanten, Bürger und Bewohner ihre Blicke darin wärmen können.

Ansonsten bleibt der Platz meistens leer. Nur selten verirrt sich ein Fußgänger oder Einkäufer auf die betonierte Form, um sie von Raumangst ergriffen, schnell wieder zu verlassen.

Mit der Zeit tauchen fremdartige Gestalten, Figuren und Subjekte auf – erst vereinzelt, dann in kleinen Gruppen und später in großer Zahl – sie befluten und bespielen die innerstädtische Ödnis mit unvorhergesehenen Ereignissen.

Sie sehen anders aus, tragen andere Kleidungen an anderen Körpern, in anderen Gesichtern mit anderen und neuen Gesten zur Schau, ganz so, als hätten sie sich im eigenen Land fremd gemacht.

Sie scheinen nirgendwo dazuzugehören, sondern nur mehr sich selbst zu gehören und bilden ein eigenartiges, aus der Umgebung fallendes Muster.

Sie treten in unterschiedlichen Formen und Kontrasten auf – mal langhaarig gebatikt und folkloristisch zerfranst, mal mit grellen, eckig geschnittenen Haaren in Jeans und Leder mit Nieten verziert. Oder in tiefergelegten zu weiten oder zu engen Hosen, Röcken und Oberteilen und gefärbt mit Abbildungen und Markierungen auf allen Teilen ihrer Körper.

Allein oder zusammen kommen sie von anderen Orten und Plätzen, bleiben eine kurze Zeit und ziehen dann weiter.

Oder sie kommen jeden Tag zu jeder Zeit – am Morgen, am Abend und in der Nacht.
Sie haben alle Zeit der Welt oder tun so, als ob sie die hätten.

Sie haben nichts vor.

Leben in den Tag hinein.

Sie gammeln

lungern

faulenzen

hängen ab

trödeln

und bummeln.

Als sei ihre Welt jenseits des Platzes zu Ende,

lagern und legen sie

ihre langsamen Körper

an und auf die Einfassungen,

Vorsprünge,

Geländer,

auf Treppenabsätze und Stufen,

Brüstungen und Sockel.

Sie beleben den leeren Raum des Platzes mit ihrer sich uferlos ausdehnenden Zeit.

Doch die Ladenbesitzer, Bewohner und Passanten sagen im Vorbeigehen untereinander und zu sich „Die lieget da rum und mir müsset schaffe.“

Und einige sagen auch: „Das ist der Bodensatz des Asozialen.“

Und noch mehr Wörter und Sätze werden hin- und hergeschoben in Lokalnachrichten und Kommunalratssitzungen.

Dann werden Pläne geschmiedet und Maßnahmen ergriffen.

Die freien Flächen des Platzes werden bepflanzt – mit Stiefmütterchen und Knollenbegonien.
Ungefähr seit dieser Zeit tragen die Gestalten, Subjekte, Dealer, Obdachlose und Punks auf dem Platz Aufnäher und Buttons mit einem Schriftzug in vielfach changierenden Farben.

Der Schriftzug besagt: „Zurück zum Beton!“

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Fussnoten:

Fn1: Es handelt sich um den Katalog Farbwege 1952 – 1974 des Künstlers O.H. Hajek. O.H. Hajek (*1927 in Kaltenbach, Tschechoslowakei; † 2005 in Stuttgart) arbeitete als Grafiker und Bildhauer. Er realisierte eine große Anzahl von Auftragsarbeiten – farbige Skulpturen bzw. Objekte aus Stahl und Beton sowie Innenraum- und Fassadengestaltungen an öffentlichen Gebäuden und Plätzen.

Fn2: Vom 24. Juli bis zum 30. September 1969 fand die Ausstellung Platzmal in der Galerie der Stadt Stuttgart und auf dem Kleinen Schlossplatz in der Stuttgarter Innenstadt statt. Anlässlich der Finissage richtete O.H. Hajek ein Happening aus. Ausweis der Beteiligung an der Kunstaktion war der „Platzmal-Gruß“, den die Teilnehmer auf die Wange gestempelt bekamen. Hajek erklärte zudem den Luftraum zum Kunstraum: Flugzeuge zogen farbige Kondensstreifen – und damit Farbwege – über Stuttgart. Bei den „Farbwegen“ handelt es sich um ein künstlerisches Konzept von Hajek. Er sprach von „plastischen Ereignissen mit flächigen Mitteln“. Seine Stadtraumgestaltungen bezeichnete er als „Stadtikonografien“ – künstlerische Raumartikulationen, die den Bewohnern den Stadtraum als kommunikativen Erlebnisraum wieder erfahrbar machen sollten.

Fn3: Der Kleine Schlossplatz in Stuttgart war eine Platzgestaltung, die 1968 gebaut wurde und einen innerstädtischen Verkehrsknotenpunkt mit einer erhöhten Betonkonstruktion quasi „deckelte“. Nach einer wechselvollen Geschichte wurde die Konstruktion am Kleinen Schlossplatz 2002 abgerissen. An dieser Stelle steht nun der Kubus des Kunstmuseums Stuttgart. Siehe hierzu den Film Die Kalte Platte (2003) von Chi-Hun Whang, Cem Kaya und Guido Negenborn über die Geschichte des Kleinen Schlossplatzes in Stuttgart: http://vimeo.com/25600035
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© Christine Lemke (2013)

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Text erscheint im Katalog zur Ausstellung:
Katrin Mayer, memoiré et doublier, 2013
Sparda-Kunstpreis im Kunstmuseum Stuttgart

im Kerber Verlag
Grafik: Studio Taube